Arbeitskraftabsicherung trotz Psychotherapie?
Fast 18 Millionen Deutsche sind jährlich von einer psychischen Erkrankung betroffen. Gerade unter jüngeren Menschen haben seelische Leiden zugenommen. Gleichzeitig steigt aber auch deren Akzeptanz. Während noch vor ein paar Jahrzehnten eine Psychotherapie verheimlicht wurde, ist die Behandlung mittlerweile kein Stigma mehr. Allerdings sieht das bei der Risikoprüfung für bestimmte Versicherungen anders aus: Wer in die private Krankenversicherung wechseln will, ist nahezu chancenlos. Eine Psychotherapie stufen Versicherer als hohes Risiko ein, viele Interessenten werden einfach abgelehnt.
Auch beim Thema Arbeitskraftabsicherung sieht es nicht besser aus. Eine Dienstunfähigkeits- oder Berufsunfähigkeitsversicherung trotz Therapie abzuschließen, ist ähnlich aussichtslos. „Bei vielen BU-Versicherern führt eine angegebene F-Diagnose häufig zu einer Ablehnung oder einem Leistungsausschluss“, erklärt Gerd Kemnitz, Versicherungsmakler mit Fokus auf Berufsunfähigkeitsversicherungen. Und zwar selbst dann, wenn diese nur zum Zwecke einer kurzzeitigen Krankschreibung oder zur Bewilligung einer Mutter-Kind-Kur getroffen wurde.
Dass indessen Versicherer selbst Kritik an dieser Praxis üben, ist eher unüblich. Bisher. „Es kommt vor, dass Menschen, die in Therapie waren oder sind, diese wichtige Versicherung gar nicht mehr bekommen,“ kritisierte unlängst Martin Gräfer, Vorstand der Bayerischen, in einem Beitrag auf Linkedin. Häufig werden sie bei der Risikoprüfung der Versicherer aussortiert, fallen durch das Raster der Wunschprofile.
Deswegen plane das Unternehmen, den Prozess zur Antragsprüfung umzustellen. Man wolle „im besten Fall den Zugang zu dieser existenziellen Vorsorge anbieten können“. Doch allein bei der Bayerischen sind im Durchschnitt der vergangenen Jahre zwischen 30 und 40 Prozent der Leistungsfälle auf psychische Erkrankungen zurückzuführen. Das angestrebte Vorhaben ist vor diesem Hintergrund zumindest bemerkenswert.
Risikoprüfer sollen gecoacht werden
„Wir erleben sehr oft, dass auf Seite der Interessenten als auch der Vermittlerinnen und Vermittler eine Scheu vor der Voranfrage besteht, wenn in der Vergangenheit eine Therapie gemacht wurde“, erklärt das Unternehmen auf Nachfrage. Man wolle nun zeigen, dass eine Psychotherapie kein pauschales Abschlusskriterium mehr sei.
Dazu muss man aber wissen: Die Voranfragen stellen professionelle Makler stets anonymisiert, um im Fall einer Ablehnung weitere Versicherer anfragen zu können. Sobald jedoch ein richtiger Antrag mit Angabe des Namens gestellt wird, muss eine Ablehnung auch beim nächsten Versicherer angegeben werden. Das verschlechtert die Erfolgsaussichten auf den Abschluss einer Police.
Um die Angst vor der Ablehnung des Antrags abzubauen, wolle die Bayerische die individuelle Situation des Antragstellers mit Hilfe einer psychologischen Fachkraft differenzierter betrachten. „Alle Personen, die in die Prüfung und Kommunikation der individuellen Fälle eingebunden sind, müssen sich noch intensiver als bisher mit der Materie auseinandersetzen“, erklärt das Unternehmen.
Zwar müssten Risikoprüfer nicht zur psychologischen Fachkraft ausgebildet werden. Dennoch können sie künftig mit Fokus auf seelische Krankheitsbilder gecoacht werden oder sich professionell beraten lassen. Das Ziel: Beschwerden, Vorerkrankungen und damit auch die Risiken besser einschätzen können.
Doch auch bevor es zur Antragstellung kommt, sollen potenzielle Neukunden künftig online einen „Quick Check“ vornehmen können. Und zwar, ohne persönliche Daten hinterlassen zu müssen. Damit könnten sie sich eine unverbindliche Einschätzung einholen, inwiefern sie überhaupt eine Chance auf eine Arbeitskraftabsicherung haben.
Vorhaben für Versicherungsmakler problematisch
Kommt es dennoch zu einer Ablehnung des Antrags wird dem Kunden ein Gespräch mit einem Psychologen angeboten. Allerdings nur in Einzelfällen und auf ausdrücklichen Wunsch. Die Bayerische verspricht sich davon „ergänzende Angaben, die eine nochmalige Prüfung des Risikos ermöglichen“.
Makler Kemnitz begrüßt es, dass der Versicherer mehr Arbeitnehmern den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung ermöglichen möchte. „Die Bayerische will aber ausdrücklich nur Neukundinnen und Neukunden anbieten, ein Gespräch mit einem Therapeuten zu führen.“ Der Interessent muss wirklich erst Kunde werden, also einen verbindlichen Antrag stellen. „Dann dürfte diese Vorgehensweise in der Zusammenarbeit mit Versicherungsmaklern nicht klappen.“
Zumal ein solches intimes Gespräch mit einer unbekannten Person, die im Dienst des Versicherers fragt, Antragsteller eher abschrecken dürfte. Dagegen versichert die Bayerische, dass sie keine Informationen über die Inhalte dieser Gespräche erhalte. Die psychologische Fachkraft gebe ausschließlich eine Empfehlung. „Es geht vor allem darum, im Gespräch die oftmals wenig aussagekräftigen Angaben aus dem Versicherungsantrag im Dialog mit psychotherapeutischen Fachleuten weiter zu vertiefen,“ erklärt das Unternehmen. Der Informationsgewinn könnte zu einem besseren Risikoprüfungsergebnis führen
Doch was passiert, wenn sich während eines solchen Gesprächs die Nichtversicherbarkeit des Kunden bei der Bayerischen herausstellt? „Wird die Gesellschaft dann eigenmächtig hauseigene Notlösungen, sprich: Grundfähigkeitsversicherungen, anbieten? Oder überlässt sie es dem ursprünglichen Vermittler, die Versicherbarkeit bei anderen BU-Versicherern zu prüfen?“, fragt BU-Makler Kemnitz. Aus seiner Sicht wäre es sinnvoll, wenn Interessenten schon bevor sie einen Antrag stellen ihre Versicherbarkeit prüfen könnten. „Dies könnte beispielsweise ein Online-Tool sein, dass den Leitfaden des angedachten Gesprächs widerspiegelt.“
Zeitgemäße Einordnung: Therapie zur Vorsorge
Bleibt die Frage, ob es sich bei dem Vorhaben der Bayerischen um ein rein altruistisches handelt? Steht also nicht der Gewinn im Vordergrund, sondern ein gesellschaftlicher Wandel? Oder könnte es auch sein, dass die Nachfrage nach Arbeitskraftabsicherung nachlässt? Schließlich wäre aktuell nahezu jeder mit Therapieerfahrung von vornherein chancenlos. Bei der Bayerischen scheint das zumindest nicht der Grund zu sein. Zwischen 2017 und 2021 sei die Anzahl der Verträge um 34 Prozent gestiegen.
Versicherungsmakler monieren immer wieder, dass viele Versicherer völlig außer Acht lassen, dass eine Psychotherapie auch präventiv vor tiefergehenden Erkrankungen helfen kann. Eine Erkenntnis, die die Bayerische offenbar teilt: „Eine erfolgreiche Therapie bedeutet in den meisten Fällen mehr Resilienz, mehr Widerstandskraft und ein geringeres Risiko psychosomatischer Erkrankungen.“
Das Unternehmen rechne damit, dass die Initiative auch in wirtschaftlicher Hinsicht ein Erfolg werde. Sollte es bei dem Vorhaben allerdings bei Lippenbekenntnissen bleiben, wird das die Maklerschaft genau registrieren. Der Marketingschaden wäre vorprogrammiert. Wenn das Vorhaben hingegen tatsächlich eine grundlegende Veränderung der Risikoprüfung und Annahmepolitik nach sich zieht, könnte der Versicherer eine Trendwende einleiten.