DIN-Norm für Gewerbeberatung: Zwischen Kritik und Chance
Für einen Versicherungsmakler aus Hamburg war der 9. September 2021 ein schwarzer Tag. Das Landgericht der Hansestadt beschied in einem Urteil, dass sein Maklerbetrieb für einen Schaden in Höhe von rund 5,1 Millionen Euro geradestehen muss, den einer seiner Kunden verursacht hat. Der Grund: Er hatte eine Bewachungs- und Sicherheitsfirma nicht mit dem benötigten Versicherungsschutz versorgt.
Die Sicherheitsfirma hatte neben anderen Tätigkeiten auch den Flutschutz für mehrere Hamburger Gebäude übernommen. 2016 war ihr bei einem Hochwasser ein folgenschwerer Fehler unterlaufen, was zu dem hohen Schaden führte. Ihr Betriebshaftpflichtversicherer R+V schlug allerdings die Leistungsforderungen aus: Flutschutz war in der Police nicht inbegriffen. Der Makler, so der Vorwurf seitens der Sicherheitsfirma, habe das Risiko nicht erkannt und sei nun haftbar zu machen. In erster Instanz hatte die schlecht beratene Firma damit nun Erfolg.
Das Beispiel veranschaulicht, wie immens wichtig eine umfassende Risikoanalyse ist – insbesondere im Gewerbebereich, wo die Summen schnell in schwindelerregende Höhen steigen können. Um Abhilfe zu schaffen und für verlässliche Qualität in der Risikoanalyse von kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) zu sorgen, haben Versicherer, Banken und Berater die DIN-Norm 77235 entwickelt.
Seit September ist sie nun verfügbar, nachdem lange daran herumgetüftelt worden war. Es ist die zweite DIN-Norm in der Branche, seit 2019 gibt es bereits die DIN 77230 für die Finanzanalyse von Privathaushalten. Beide Standards sind nicht verpflichtend, ihre Anwendung können sich Makler aber zertifizieren lassen.
Qualitätsschub oder überflüssig?
Längst nicht alle Gewerbe-Makler sind von dem neuen Angebot überzeugt. Das wundert Verfechter der Norm wie Makler Andreas Vollmer. Er sieht im Hamburger Fall nur die Spitze des Eisbergs, die Qualität in der Beratung im Gewerbebereich sei nicht immer gesichert, sagt er. Sowohl die Vermittler als auch die Versicherer, die ihnen Software zur Verfügung stellen, sollten sich intensiv mit der Risikoermittlung beschäftigen. Denn die Qualität der Vermittlung kann nur so gut sein, wie der Vermittler die Risiken des Kunden erkannt hat.
Dass die DIN die Risikoanalyse verbessern kann, glaubt Makler Hermann Hübner indessen nicht. Sein Urteil: „Eine solche Norm ist überflüssig.“ Der Vorstandsvorsitzende der Versicherungs-Makler-Genossenschaft Vema ist selbst im Gewerbegeschäft tätig und lehnt die DIN 77235 ab. „Jeder Firmenkunde ist individuell. Die Makler, die im Gewerbereich erfolgreich sind, wissen, welche Frage sie dem jeweiligen Kunden stellen müssen. Wer Ahnung hat, braucht keine Norm – und wer keine Ahnung hat, sollte es sowieso lassen“, sagt er. Von seinen Kunden hat noch niemand nach der Norm gefragt, auch in der Vema spielt das Thema keine Rolle, sagt Hübner. Wichtiger als einer Norm zu folgen, sei, sich ständig fortzubilden und neue Bereiche auszuloten, zum Beispiel den Komplex Cyberschutz in die Bögen aufzunehmen.
Auch Stephan Schmidt, Geschäftsführer von VCU24, zeigt sich kritisch. Als spezialisierter Makler für gewerbliche Sach- und Haftpflichtrisiken hat sein Haus eigene Beratungsstandards entwickelt und mittels eigener Software umgesetzt. Seine Beobachtung: „Unternehmen und deren Risiken lassen sich nicht immer in Boxen erfassen, es bedarf einer individuellen und fachlichen Analyse, bei der man über die Grenzen des Tellerrandes hinwegschaut.“
Ein Bogen mit 52 Themenfeldern
Dass die Branche mit Skepsis reagiert, hat Gewerbemakler Bernd Becker geahnt. Die gleichen Reaktionen beobachtete er auch bei der Einführung der DIN 77230 für den Privathaushalt. Diese sei inzwischen trotzdem in den meisten Beratungsprogrammen integriert. Der neue DIN-Fragebogen im Gewerbereich wirkt auf den ersten Blick ziemlich erschlagend: Insgesamt 52 Themenfelder sollen darin alle denkbaren KMU-Risiken abdecken. Dennoch lohnt es sich für Becker aus verschiedenen Gründen, den Bogen zu verwenden, wie er sagt.
Kein Wunder: Er selbst war an der Entwicklung der Norm beteiligt, seine Makler GmbH trägt sogar den Namen „mitNorm“. Für die meisten Gewerbekunden sei dagegen nur ein Teil des Fragebogens relevant, sagt Becker. „Bei einem multinationalen Unternehmen müsste man wahrscheinlich fast alle Fragen durchgehen, bei den meisten KMU lassen sich viele überspringen“, sagt er.
Die Softwares, in die der Norm-Bogen verbaut wird, dezimieren die Themenbereiche automatisch: Hat ein Unternehmer keine Beschäftigten, fallen beispielsweise alle weiteren Fragen zur Belegschaft weg. „Viele der Fragen sind sicherlich identisch mit dem Fragebogen, die ein ordentlicher Berater hat“, sagt Becker mit Verweis auf die Bögen, die der Arbeitskreis Beratungsprozesse zur Verfügung stellt.
Ein wichtiges Argument für die Anwendung der neuen Norm besteht für Becker im Werbeeffekt: „Mit der Norm für Privathaushalte habe ich Kunden gewinnen können. Im Gewerbe rechne ich auch damit.“ Die Norm schüre das Vertrauen, eine objektive Beratung zu bekommen. Insbesondere Unternehmer würden eine solche Herangehensweise begrüßen, im Gewerbe sei man mit DIN-Normen eben vertraut. Becker geht von einer wachsenden Nachfrage aus. „Am Anfang war die genormte Steckdose auch nicht verpflichtend“, sagt er und lacht. „Aber sie hat sich durchgesetzt, weil die Kunden irgendwann nichts anderes mehr wollten.“
Bleibt das Thema Haftungsrisiken. Die lassen sich auch bei Anwendung der DIN nicht hundertprozentig ausschließen. Becker ist überzeugt, dass die Anwendung der Norm sie aber stark vermindert. Zudem zeigten sich erste Sachverständige und Richter offen dafür, den Bogen als Referenz heranzuziehen.
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