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Grünes Label für Atom- und Gaskraft?

Die EU plant, Investitionen in Atom- und Gaskraft künftig als nachhaltig zu klassifizieren. Der Vorstoß sorgt für hitzige Debatten, erste Länder drohen mit einer Klage. Welche Argumente sprechen dafür und welche dagegen?

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10:01 Uhr | 07. Januar | 2022
Martin Thaler und Hannah Petersohn

Der EU-Vorstoß, auch Atomkraft als "grün" zu deklarieren, sorgt für hitzige Debatten. Welche Argumente sprechen dafür und welche dagegen? | Quelle: procontra

Für den EU-Entwurf argumentiert:
Martin Thaler, Chefredakteur, procontra-online

Nuklearenergie und Gas sind nachhaltig? Eine abenteuerliche Argumentation, oder? Eine Technologie, bei der immer noch – in keinem Land dieser Welt übrigens – geklärt ist, wie und wo der radioaktive Abfall über Jahrhunderte gelagert werden soll, ist sicherlich genauso wenig nachhaltig wie eine Technologie, bei der im Durchschnitt pro Gigawattstunde Strom 490 Tonnen CO2-Äquivalent emittiert werden – zum Vergleich: Bei Windenergie sind es lediglich 4 Tonnen.

Und doch kann die Entscheidung der EU-Kommission, Investitionen in Atom- und Gaskraftwerke als nachhaltig einzustufen, Sinn ergeben.

Beginnen wir mit der Atomenergie. Laut Europäischer Union ist es das Ziel der EU-Taxonomie, finanzielle Mittel zu mobilisieren, um in den nächsten 30 Jahren Klimaneutralität in Europa zu erreichen.

Zeit ist der entscheidende Faktor

Das Ziel unterstreicht: Zeit ist bei der Eindämmung des Klimawandels ein entscheidender Faktor. Bereits 2030 könnte laut des aktuellen Berichts des Weltklimarates IPCC das politisch vereinbarte 1,5-Grad-Ziel erreicht sein. Mit jedem Zehntel-Grad, um das die Temperatur steigt, wächst auch das Risiko, dass einer der sogenannten Kipp-Punkte erreicht wird – also jene kritischen Momente (o.Ä.), durch die der Klimawandel noch einmal deutlich beschleunigt werden würde. Das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung greift zur Verdeutlichung gerne zur folgenden Metapher: Schiebt man eine Kaffeetasse über den Schreibtischrand passiert erst nichts, bis sie einen kritischen Punkt erreicht, an dem sie kippt und abstürzt.

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Diese kritischen Punkte gilt es folglich zu vermeiden – das beste Rezept hierfür: Den CO2-Ausstoß möglichst schnell senken. Leider verschlingt der Bau insbesondere von Windenergieanlagen viel Zeit – zu viel Zeit. Laut Bundesverband Windenergie dauert der Prozess der Planung und Genehmigung neuer Windkraftanlagen durchschnittlich vier bis fünf Jahre. Zwar will die Ampel-Koalition hier aufs Tempo drücken, doch bleibt abzuwarten, wie erfolgreich sie bei diesem Vorhaben sein wird.

CO2-arme Nuklearenergie darum als zeitlich befristete Brückentechnologie zu verstehen und entsprechend als nachhaltig zu kennzeichnen, mag eine schwer zu schluckende Kröte sein – doch leider klingen die anderen Menüs auf der Speisekarte noch weniger appetitlich.

Neue Technologien bei Gaskraftwerken

Kommen wir zum Thema Gas. Hier sieht der aktuelle Entwurf der EU-Kommission deutlich verschärfte Kriterien für Gaskraftwerke in den kommenden Jahren vor, sofern sie als nachhaltig eingestuft werden wollen. Ab 2030 soll der CO2-Ausstoß auf 100 CO2-Äquivalente pro Kilowattstunde limitiert sein – weit weniger, als moderne Kraftwerke heute ausstoßen. Laut Experten wird das nur durch die Einbeziehung grünen Wasserstoffs möglich sein: Grüner Strom wird in Wasserstoff-Gas verwandelt, der bei Bedarf – beispielsweise einer Windflaute – wieder in Strom verwandelt wird. H2-Ready-Gaskraftwerke heißt diese Technologie, die für die Sicherstellung der Stromversorgung in Deutschland eine entscheidende Rolle spielen dürfte.

Sollten diese Argumente Sie und Ihre Kunden dennoch nicht überzeugen, wird es auch in Zukunft ETFs oder Fonds geben, die trotz Nachhaltigkeits-Zertifizierung auf Gas- und Atomenergieinvestitionen verzichten werden. Hier bedarf es folglich eines genauen Blicks beziehungsweise einer zielgerichteten Beratung, um diese Produkte für den Kunden zu identifizieren.

Gegen den EU-Entwurf argumentiert:
Hannah Petersohn, leitende Redakteurin, procontra-online

Fließt schon bald das Geld von Privatanlegern, die eigentlich auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz setzen, in Gas- und Atomkraftwerke? Laut eines aktuellen Rechtsakt-Entwurfs plant die EU-Kommission, Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke als klimafreundlich einzustufen. Dazu muss man verstehen: Die Taxonomie-Verordnung soll privaten Investoren eine Orientierung darüber geben, welche Projekte, Unternehmen und Technologien ökologisch nachhaltig sind.

Wird nun aber tatsächlich die fossile Energiegewinnung rehabilitiert, wirkt das auf den ersten Blick wie ein plumper Versuch, durch die Hintertür längst überholte Industriezweige zu reaktivieren und beiläufig Greenwashing salonfähig zu machen. Doch der Beweggrund hinter dem Vorstoß, der zu einem fragwürdigen Moment die Politiker per E-Mail erreichte – nämlich am Silvesterabend –, ist wohl eher ein Ringen um Interessenausgleich. Denn Fakt ist: Während Deutschland Ende dieses Jahres alle Atomkraftwerke abschaltet, laufen sie in Frankreich munter weiter und sollen sogar ausgebaut werden.

Immenser Vertrauensverlust

Frankreich hat übrigens laut den Daten des Fraunhofer-Instituts im vergangenen Jahr mehr Strom von Deutschland gekauft (15 Terrawattstunde) als es andersherum der Fall war (8,5 Terrawattstunde). Dafür setzt man in Deutschland wiederum in Zukunft auf Gas, siehe Nord Stream 2. Durch den Taxonomie-Deal würden also in erster Linie diese beiden Länder profitieren, der Umwelt- und Klimaschutz ist zweitrangig.

EU-Gelder würden dadurch in genau diese Technologien fließen, anstatt sie allein für die nachhaltige Energiegewinnung bereitzustellen. Das hat fatale Folgen in der Außenwirkung seitens der Wähler, Politiker haben sowohl hier als auch im Nachbarland an Vertrauen eingebüßt: Der Hashtag #Olafschummelt ging bei Twitter bereits viral, wobei seine Glaubwürdigkeit schon länger, vorsichtig ausgedrückt: angekratzt ist.

Ein weiterer Vertrauensverlust droht auf Seiten der Anleger, die Wert auf nachhaltige Investments legen. Schließlich sollen die Empfehlungen der EU ja gerade vom Sinn nachhaltiger Anlagen überzeugen. Privatanleger könnte der Vorstoß abschrecken, weiterhin überhaupt auf grüne Anlagen zu setzen. Denn wenn ein AKW als nachhaltig eingestuft wird, ist das allein vor dem Hintergrund der umweltschädlichen Uranförderung und der ungeklärten Entsorgung hoch radioaktiver Abfälle, pure Anlegertäuschung und alles andere als ökologisch vertretbar. Und: Es verwässert das Nachhaltigkeitssiegel und führt es ad absurdum.

Einzige Lösung: Investitionen in Ökostrom

Ein Gutachten, das vom österreichischen Klimaschutzministerium in Auftrag gegeben wurde, belegt, dass die Erzeugung von Kernenergie mehrere Kriterien der Taxonomie-Verordnung der EU verletzt. Demnach wird Atomkraft – wenig verwunderlich – auch nach EU-Definition nicht als erneuerbare Energie eingestuft und trägt also folglich nicht zum Klimaschutz bei. Die EU-Regularien fordern einen „substanziellen positiven“ Effekt auf die Umwelt, der bei der Kernkraft nun wirklich nicht zu finden ist. Eine Technologie dürfe zudem laut Taxonomie nur dann als nachhaltig eingestuft werden, wenn es keine besser geeignete, technologisch und wirtschaftlich sinnvolle Alternative mit geringen CO2-Emissionen gebe. Aber es gibt sie: Wind- und Solarkraftanlagen.

Sie müssen dringend weiter gefördert werden, auch mit dem Geld privater Anleger, schließlich braucht Deutschland „idealerweise“ bis 2030 einen Ökostromanteil von 80 Prozent, wenn dann tatsächlich der Kohleausstieg vollzogen sein sollte. Das ist in der Tat ambitioniert, schließlich lag 2021 der Anteil erneuerbarer Energien am Nettostromverbrauch bei gerade einmal knapp 46 Prozent.

Alles andere als klimaschonend

Wer nun für Gas als Brückentechnologie argumentiert, vergisst, dass Gaskraftwerke alles andere als klimaschonend sind: Der Hauptbestandteil von Erdgas ist Methan. Das wiederum steigert den Treibhauseffekt um das 84-fache im Vergleich zu Kohlenstoffdioxid. Selbst ein kleines Leck in der Gasinfrastruktur sei „hoch klimaschädigend“, warnt Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der HTW Berlin.

Bis zum 12. Januar können die EU-Mitgliedstaaten zu den Vorschlägen aus Brüssel Stellung nehmen. Wenn es tatsächlich so kommen sollte, dass Atom- und Gaskraft grün gelabelt wird, der neue Entwurf zur EU-Taxonomie also tatsächlich Realität werden sollte, wäre das ein Super-GAU – sowohl für das Nachhaltigkeitssiegel, den Klima- und Umweltschutz als auch für das Vertrauen in politische Entscheidungsträger.