Während Fachkräftemangel

Strukturvertriebe gewinnen tausende Vermittler hinzu

Viele Branchen klagen seit Monaten über Personalknappheit. Dagegen erleben Strukturvertriebe der Finanz- und Versicherungsbranche einen regelrechten Boom. Immer mehr Menschen wollen für sie beraten und vermitteln.

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14:08 Uhr | 22. August | 2022
Personalmangel allerorten. Doch mehrere große Strukturvertriebe verzeichneten zuletzt neue Höchststände bei der Anzahl ihrer Berater. Bild: NicolasMcComber

Personalmangel allerorten. Doch mehrere große Strukturvertriebe verzeichneten zuletzt neue Höchststände bei der Anzahl ihrer Berater. Bild: NicolasMcComber

Manche Unternehmer stehen offenbar für eine geradlinige Kommunikation oder haben mittlerweile einfach resigniert. „Wegen Personalmangel machen wir länger Urlaub“ – solche und ähnliche Begründungen für unerwartete Schließzeiten finden sich derzeit vielerorts vor Eisdielen und Restaurants, aber auch vor Geschäften aus anderen Branchen als der Gastronomie. Laut dem Münchener ifo Institut hat der Fachkräftemangel hierzulande im Juli einen neuen Höchststand erreicht: 49,7 Prozent der Unternehmen seien davon beeinträchtigt, heißt es. In der Dienstleistungsbranche seien es 54,2 Prozent und im verarbeitenden Gewerbe 44,5 Prozent. Doch wie sieht es in der Versicherungsbranche aus?

„Die Versicherungswirtschaft ist nicht generell, aber in bestimmten, spezifischen Bereichen vom Fachkräftemangel betroffen“, sagt Sebastian Hopfner, stellvertretenden Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands der Versicherungsunternehmen in Deutschland (AGV). Er zählt Tätigkeiten im IT-Bereich auf. Laut Hopfner könne die Assekuranz aber auch nicht als „Zielbranche“ für fachfremde Personen ausgemacht werden. „Wir sind eine Branche für Personen mit hohem Qualifizierungsgrad. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Branchen, in denen starke Abwanderungsbewegungen festzustellen sind, zum Beispiel Gastronomie und Einzelhandel, sind nicht die Kern-Zielgruppe der Branche“, erklärt er.

Allerdings könne er jetzt, in Zeiten allgemeiner Wirtschaftskrise und hoher Inflation, auch keine Magnetwirkung des Versicherungsvertriebs auf Quereinsteiger feststellen, so der Arbeitgebervertreter. Nach wie vor müssten die Versicherungsunternehmen starke Anstrengungen unternehmen, um qualifizierte Vertriebskräfte zu akquirieren.

Das kann Michael H. Heinz bestätigen. Der Präsident des Bundesverbands Deutscher Versicherungskaufleute (BVK) verweist auf die seit gut einem Jahrzehnt rückläufige Anzahl der registrierten Versicherungsvermittler. Auch seit Beginn der Corona-Pandemie ist deren Anzahl weiter gesunken. Als Hauptgründe für diesen Trend nennt er die demographische Entwicklung hierzulande, die zunehmende Regulierung des Berufsstands und die steigenden Ansprüche an Ausbildung und Qualifizierung. „Eine Magnetwirkung für Quereinsteiger hat die Vermittlerbranche nicht. Dafür sind die Anforderungen an die Qualifikation und Weiterbildung, Registrierung und Vertriebspraxis zu anspruchsvoll und komplex, um mal eben Versicherungsvermittler zu werden“, sagt Heinz gegenüber procontra.

Mehr als 2.500 neue Vermögensberater bei der DVAG

Zwar gibt ihm die sinkende Anzahl an Versicherungsvermittlern Recht, die Entwicklungen bei der Deutschen Vermögensberatung AG zeichnen aber ein anderes Bild. Der Strukturvertrieb vermeldete im März 2022, dass sich innerhalb eines Jahres mehr als 2.500 „Quereinsteiger und Branchenkenner“ für eine Karriere als Vermögensberater bei dem Unternehmen mit Sitz in Frankfurt am Main entschieden haben. Dadurch habe die Anzahl an Vermögensberatern Ende 2021 mit 18.500 einen neuen Höchststand erreicht, erklärte eine DVAG-Sprecherin auf procontra-Nachfrage. In der Folge stiegen auch Umsatz und Gewinn in 2021 um jeweils mehr als zehn Prozent.

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Das deutliche Plus an Vermögensberatern, die praktisch als Vertreter für den Generali-Konzern tätig sind, macht man bei der DVAG vor allem an der Aktion „Gerade jetzt“ fest. Unter dem Motto „Chance statt Krise“ hatte das Unternehmen im März 2021 begonnen, auf verschiedensten Wegen für eine Karriere bei dem Strukturvertrieb zu werben. Der Sprecherin zufolge würden die Quereinsteiger vorrangig aus kaufmännischen Berufen stammen. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Filialschließungen von Banken habe man zudem in den vergangenen Jahren vermehrt Banker registriert, die eine berufliche Karriere bei der DVAG gestartet haben.

Dass sich „die Neuen“ bald wieder verabschieden könnten, glaubt man in Frankfurt nicht. Die Rating-Agentur Assekurata habe der DVAG unter ihren hauptberuflichen Vermögensberatern für die Jahre 2017 bis 2020 mit 3,54 Prozent eine deutlich geringere Fluktuationsquote attestiert als im Branchendurchschnitt (14,9 Prozent) für die Branche „Finanz- und Versicherungsdienstleistungen“. Zum Thema Qualifikation teilte die Sprecherin mit, dass die Aus- und Weiterbildung bei der DVAG weit über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehe.

Die DVAG ist allerdings nicht der einzige Strukturvertrieb, der während Wirtschaftskrise und Fachkräftemangel neue Berater anzieht. Die OVB aus Köln konnte im Jahr 2021 die Anzahl ihrer Finanzvermittler um 355 (+6,8 Prozent) auf 5.603 erhöhen. Im selben Zeitraum stiegen die Erträge aus vermittelten Verträgen um 18,5 Prozent auf den neuen Rekordwert von 320,7 Millionen Euro.

Bei der Telis Finanz Vermittlung AG war trotz mehrfachen Versuchen niemand für eine Presseanfrage zu erreichen. Jedoch ist den Internetseiten der Regensburger Vertriebsgesellschaft ein Anstieg der Berater von 1.500 auf rund 2.000 bis Ende 2021 zu entnehmen.

Strukturvertriebe mit Magnetwirkung

Der zu Swiss Life Deutschland gehörende Strukturvertrieb tecis konnte die Anzahl seiner Finanzberater im vergangenen Jahr sogar um mehr als 15 Prozent ausbauen. Das in Hamburg ansässige Unternehmen wuchs um mehr als 500 Vermittler und kann hier nun ebenfalls auf einen neuen Höchststand von rund 3.500 blicken.

Man sei froh darüber, dass sich derzeit viele Menschen für einen Berufseinstieg in die Finanzberatung bei tecis entscheiden würden, sagte eine Swiss-Life-Sprecherin auf procontra-Nachfrage. Gleichzeitig betonte sie, dass diese erst nach Bestehen der IHK-Sachkundeprüfung (§ 34d und § 34f GewO) selbstständig Kunden beraten dürfen und ständig weitergebildet würden.

Während sich also die Anzahl der Versicherungsvermittler, speziell der Vertreter, immer weiter reduziert, nimmt innerhalb dieser die Bedeutung der Strukturvertriebe immer weiter zu. Mit welcher Schlagkraft diese mittlerweile agieren, zeigte sich unlängst beim Blick auf das Riester-Neugeschäft: Von den 310.000 im Jahr 2021 abgeschlossenen Policen gingen mehr als 110.000 auf das Konto der DVAG.