„Die Scheu vor dem Kapitalmarkt ist kulturell bedingt“
procontra: Ausgerechnet zu Beginn der Corona-Krise trieb es viele deutsche Privatanleger an den Kapitalmarkt, die sich vorher davor gescheut haben. Verwunderlich, oder?
Prof. Andreas Hackethal: Das hat mich doch sehr überrascht. Aber am Ende lässt sich auch diese Entwicklung zu einem plausiblen Narrativ zusammenfügen. Zum einen hat der pandemiebedingt starke Kurssturz im Frühjahr vielen Privatanlegern einen Einstiegspunkt geboten. Denn die Rekordstände an den Börsen zuvor hatten vielen Angst gemacht, nach dem Motto: „Wenn ich auf dem jetzigen hohen Niveau einsteige, kann es nur danebengehen“. Die Korrektur an den Börsen erleichterte trotz der großen Ungewissheit vielen die Entscheidung. Besonders viele Jüngere, die sich vorher noch nicht die Finger verbrannt haben, eröffneten zu dieser Zeit Depots. Sie hatten das Gefühl „Ich will nun nichts verpassen“ und die Kurse sind dann ja tatsächlich schnell wieder gestiegen. Zeitgleich sind mehrere langfristige Phänomene kulminiert, vor allem das der Niedrig- bis Negativzinsen. Die Frage „wohin mit meinem Geld?“ wurde bei vielen drängender. Dennoch bestehen nach wie vor zahlreiche Hürden, tatsächlich Aktien zu kaufen.
procontra: … die da wären?
Hackethal: Ganz praktisch sind das zunächst die Kosten für die Depoteröffnung und Transaktionen. Hinzu kommt schlichtweg bei vielen eine Unwissenheit, wie der Kapitalmarkt funktioniert. Sich da hineinzuarbeiten kostet Zeit. Und dann gibt es den psychologischen Faktor: das Horrorszenario, seine mühsam erwirtschafteten Ersparnisse zu verlieren und Glaubenssätze wie: „Das ist nichts für mich“ oder „Das machen doch nur Reiche“.
procontra: Wie lassen sich diese Hürden überwinden?
Hackethal: In dem Moment, in dem ich mitbekomme, dass mehr und mehr Menschen auf den Zug aufspringen, gibt mir das Antrieb. Dazu bieten Neo-Brokern und Roboadvisor große Vereinfachungen. Sie senken die Hemmschwelle nicht nur wegen der dramatischen Kostenreduktion, sondern sie bieten auch Gamification, zeigen: Das Ganze kann Spaß machen.
procontra: Was sind die größten Fehler, die Privatanleger begehen?
Hackethal: In der wissenschaftlichen Literatur gibt es sechs Klassiker, die auch heute noch verbreitet sind: Das sind mangelnde Streuung, Overtrading – also übermäßiges Handeln, Market-Timing – also der Versuch Marktzyklen abzupassen, Home Bias – also nur in deutsche Aktien oder Fonds zu investieren, der Fokus auf hochriskante Einzeltitel und das Festhalten an Verliererpapieren. Online-Broker können Abhilfe schaffen, indem sie hin zu ETF und Sparplänen lenken, aber sie können andersherum natürlich auch die Spekulation anheizen.
procontra: Ist es vor allem Ungeduld und erhöhte Emotionalität, die Amateure von Profis unterscheidet?
Hackethal: Teils – Vermögensverwalter können da ein bisschen entspannter sein, schließlich geht es nicht um ihr eigenes Geld und sie verfügen über mehr Erfahrung. Aber der Punkt ist: Die Märkte sind mittlerweile derartig kompetitiv, dass auch professionelle Trader nur wenig besser als Laien abschneiden, und dafür viel mehr Zeit und Kosten aufbringen müssen. Es gibt hochtechnisierte Marktteilnehmer mit ständig weiterentwickelten Algorithmen, die kleinste Bewertungsfehler ausnutzen. Privatanleger und auch semi-professionelle Trader müssen sich da schon fragen, welchen Vorteil sie denn gegenüber diesen Playern haben. Es ist ja ein Irrglaube, dass man von anderen Privatanlegern kauft, die vielleicht weniger Ahnung haben. Weit wahrscheinlicher ist es, dass man gegen eine Maschine handelt, die viel schneller und besser alle verfügbaren Informationen verarbeitet als man selbst.
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procontra: Besonders Männer neigen Studien zufolge dazu, sich selbst zu überschätzen und ihre eigene Expertise überzubewerten.
Hackethal: Ja, Overconfidence ist definitiv ein Phänomen, das sich besonders in der Häufigkeit der Trades niederschlägt. Und wir können in unseren eigenen Handelsdaten klar ablesen, dass diejenigen, die mehr traden fast immer eine schlechtere Bilanz verzeichnen. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist aber überschaubar. Was auffällt, ist schon eine gewissen Zurückgenommenheit der Frauen. Sie haben zum Beispiel in Finanz-Quizzes zwar weniger richtige Antworten als Männer, aber auch weniger falsche – sie sagen häufiger „ich weiß es nicht“.
procontra: Den Deutschen wird oft eine Risikoaversion attestiert, um zu begründen, dass sie sich dem Kapitalmarkt eher zögerlich nähern. Beobachten Sie in Ihren global vergleichenden Studien tatsächlich eine gewisse psychologische Sonderstellung?
Hackethal: Das wird gern so behauptet, speist sich aber nicht unbedingt aus konkreten Daten. Deutsche sind nicht grundsätzlich risikoscheuer. Das Problem ist tatsächlich eher ein Kulturelles, wir haben es mit einem erschwerten sozialen Lernen zu tun. In den USA und Großbritannien sind Aktieninvestments nicht deshalb so weit verbreitet, weil sich die Menschen privat ein Depot anlegen – das ist auch dort weniger als einer von fünf. Die weitaus meisten werden institutionell dazu bewegt, weil das Altersvorsorgesystem ganz selbstverständlich so angelegt ist, einen Teil in Fonds anzulegen. Sie werden also dahin gelenkt, das ist die Macht des Defaults – und die fehlt in Deutschland bislang. Ich sehe aber zumindest den Tipping Point gekommen, es ist nicht mehr exotisch, sich über Aktien auszutauschen.
procontra: Viele Altersvorsorgemöglichkeiten verlieren auch hierzulande durch die Niedrigzinspolitik weiter an Attraktivität. Dennoch überwiegt bei vielen Menschen die Skepsis.
Hackethal: Ja, das ist die große Frage: Wie bekommt man Menschen dazu, hier zu ihrem eigenen Vorteil zu handeln? Denn wenn sie sich dem Thema auf eigene Faust nähern, besteht die Gefahr, dass sie unseriösen Anbietern des Grauen Kapitalmarkts auf den Leim gehen, die ihnen riesige Renditen versprechen. Das Thema ist tatsächlich nicht trivial, die Landschaft durchaus undurchsichtig, sowohl was Kapitalanlagen als auch was unser komplexes Altersvorsorgesystem betrifft.
procontra: Was würden Sie Vermittlern raten, die ihren Kunden Berührungsängste mit dem Thema nehmen möchten – sollten sie eher rational oder emotional argumentieren?
Hackethal: Alle Zusammenhänge zu erklären, funktioniert nicht, drücken Sie demjenigen also bloß kein Buch in die Hand. Auf Videos mit Anleitungen zu verweisen, ist schon besser. Und dann geht es darum, über den Geldbetrag die Hemmschwelle zu senken. Eine Beratung kann dann so aussehen: „Ich verstehe, dass Sie Angst haben, Ihr Erspartes zu verlieren. Nehmen Sie nun zuerst einmal 50 Euro im Monat und starten Sie einen Sparplan. Wir machen das gemeinsam, damit Sie ein Gefühl dafür bekommen, dass das viel weniger schwankt als erwartet.“ Im nächsten Schritt geht der Berater die Ergebnisse durch: „Sie haben fünf Prozent damit gemacht“ oder auch: „Sie haben ein paar Prozent verloren – das hat doch nicht allzu wehgetan, oder?“ Von diesem Ausgangspunkt ist eine Beratung sehr viel leichter, als wenn sich Menschen dazu überwinden sollen, gleich all ihr hart Erspartes anzulegen. Kleine Beträge können eine Trainingsfläche bieten: Nach ein paar Monaten kann dann der Vorschlag kommen: „Wollen wir erhöhen? Ich rechne Ihnen einmal vor, was dabei herauskommen würde“. Dieses Erfahrungslernen wird zu einer Öffnung für das Thema führen.
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