Die Berufsunfähigkeitsversicherung und die Frage nach der Leidenszeit
14:12 Uhr | 14. Dezember | 2022
Eine Gynäkologin war insgesamt im Besitz von drei BU-Versicherungen. Im Jahr 2013 hatte die niedergelassene Fachärztin ihren Kassensitz zur Hälfte verkauft, wodurch sich auch ihre wöchentliche Arbeitszeit stark reduzierte. Hatte sie zuvor noch an vier Tagen der Woche zwischen zehn und zwölf Stunden gearbeitet, kam sie nun noch auf ein wöchentliches Arbeitspensum von 15 bis 20 Stunden.
Im Jahr 2015 beantragte sie aufgrund physischer und psychischer Probleme Leistungen aus ihren drei Berufsunfähigkeitsversicherungen. Im Rahmen der Leistungsprüfung ergab ein von der Versicherung in Auftrag gegebenes neuropsychiatrisches Gutachten, dass bei der Frau eine leichte bis mittlere depressive Phase vorliege. Sie könne darum nur noch 15 bis 20 Stunden in der Woche arbeiten.
Der Versicherer sagte darum, dass die Frau nur zu 25 Prozent in ihrer Berufsfähigkeit eingeschränkt sei – schließlich habe sie vorher doch auch nur 20 Stunden gearbeitet. Da die Berufsunfähigkeitsversicherung jedoch einen BU-Grad von mindestens 50 Prozent voraussetzt, verweigerte der Versicherer die Leistung. Mit dieser Haltung scheiterte er jedoch sowohl vor dem Gießener Landgericht als auch vor dem OLG Frankfurt (Az: 7 U 113/20, Urteil vom 22.11.2022). Denn – so befanden es beide Gerichte – die Ärztin hatte schon länger unter Schmerzen gelitten und aus diesem Grund auch hälftig ihren Kassensitz verkauft.
„Der Versicherungsfall in der Berufsunfähigkeit stellt kein punktuelles Ereignis dar, ein schlagartiger Leistungsabfall ist nicht die Regel“, hielt das Frankfurter Gericht fest.
Der Versicherer hatte argumentiert, dass der Teilverkauf des Kassensitzes nicht nur leidensbedingt erfolgte, und ihr unter anderem auch familiäre Gründe unterstellt. So hatte der Versicherer insinuiert, dass einer der Söhne der Klägerin besonderer Betreuung bedürfe, da dieser aufgrund Probleme in Mathematik um sein Fachabitur kämpfte. Dass die Frau ihren volljährigen Sohn allerdings halbtags betreue, erschien dem Gericht lebensfremd.
Da sich auch die Aussagen des Ehemanns mit der Schilderung der Versicherungsnehmerin deckten, erkannte das Gericht, dass der Kassensitzverkauf 2013 aufgrund der sich verschlechternden gesundheitlichen Situation der Klägerin erfolgte.
Maßgeblich für die Berufsunfähigkeitsversicherung ist allerdings die letzte konkrete Berufsausübung, so wie sie noch in gesunden Tagen ausgestaltet war. Entsprechend könne die Arbeitszeit nicht mit 15 bis 20 Stunden in der Woche, sondern mit 40 bis 48 Stunden bewertet werden. Dadurch ergibt sich für die Frau ein Berufsunfähigkeitsgrad von über 50 Prozent. Der Versicherer müsse also zahlen.
Eine Revision vor den Bundesgerichtshof ließ das Gericht nicht zu.